Gottesdienst im Altenberger Dom, 19.05.2019, Sonntag Kantate

   

Gastpredigt von Frau Univ.-Prof. Dr. Cornelia Richter
Abt. für Systematische Theologie und Hermeneutik
Evangelisch-Theologische Fakultät
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

 

Predigt zu Apg 16, 23-34
 

 „Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.“

 

Liebe Gemeinde,

unser heutiger Predigttext steht in der Apostelgeschichte, die mir schon als Kind immer sehr gefallen hat. Wie die Evangelien erzählt sie viele wundersame und spannende Geschichten. So wie es schon für Jesus selbst nicht einfach war, die Menschen vom Reich Gottes zu überzeugen, so schwer ist es nun auch für Paulus und die anderen Apostel. Sie fahren weit durch das Land, sie treffen auf ganz unterschiedliche Menschen, sie werden manchmal freundlich begrüßt, manchmal werden sie beschimpft und davon gejagt. Und in all dem müssen sie große Gefahren bestehen. Mit meinen kindlichen Augen habe ich die Apostelgeschichte daher immer als faszinierende Abenteuergeschichte gelesen, gar nicht so unterschiedlich wie die Abenteuer von Jim Knopf, dem Lokomotivführer oder später von den Fünf Freunden.

Schon als Kind habe ich dabei gut verstanden, dass Lukas einen Fortsetzungsroman geschrieben hat. Zuerst ist man in seinem Evangelium gemeinsam mit Jesus durch Galiläa gezogen, hat mit den Jüngerinnen und Jüngern die Wunder bestaunt, ist vor den Dämonen in Deckung gegangen, hat sich bei der Stillung des Sturmes in die Ecke des Bootes gekauert und hat mitgefiebert in dem unerträglichen Politkrimi zwischen Gründonnerstag und Karsamstag. Mit all diesen Erzählungen und Bildern von Jesu Kraft und Macht war es dann am Ostersonntag auch kein Wunder, dass der Stein vom Grab gerollt war und Jesus den Tod überwunden hat. Wie hätte es anders sein können, als dass die Geschichte am Ende gut ausgeht? Wo Jesus wirkt, ist Wunderbares nun mal möglich. Punkt.

Mit genau dieser Erwartung habe ich als Kind die Apostelgeschichte gelesen. Es war mir ganz logisch, dass es nach dem Evangelium nun die Apostel sind, also ganz normale Menschen wie wir, die Jesu Mut und seine Kraft weitertragen und dabei unsererseits manches Abenteuer zu bestehen haben.

Und genau so, liebe Gemeinde, erzählt es der heutige Predigttext.

Er steht in der Apostelgeschichte, Kapitel 16, die Verse 23-34:

23Nachdem man sie hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Kerkermeister, sie gut zu bewachen. 24Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block. 25Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und es hörten sie die Gefangenen. 26Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, so dass die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen und von allen fielen die Fesseln ab. 27Als aber der Kerkermeister aus dem Schlaf auffuhr und sah die Türen des Gefängnisses offen stehen, zog er das Schwert und wollte sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen. 28Paulus aber rief laut: Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier! 29Der aber forderte ein Licht und stürzte hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen. 30Und er führte sie heraus und sprach: Ihr Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde? 31Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig! 32Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen, die in seinem Hause waren. 33Und er nahm sie zu sich in derselben Stunde der Nacht und wusch ihnen die Striemen. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen 34und führte sie in sein Haus und bereitete ihnen den Tisch und freute sich mit seinem ganzen Hause, dass er zum Glauben an Gott gekommen war.“

Die Helden in dieser Geschichte sind Paulus und sein Gefährte Silas, Lukas selbst kommt gar nicht vor. Er war damals nur zeitweise mit Paulus gemeinsam unterwegs und hat die Geschichte daher aus Erzählungen anderer übernommen. Aber das ist für uns egal, wir sind ja beim Hören mitten drin in der Geschichte: Paulus und Silas sind im Gefängnis gelandet, weil sie in der Stadt Philippi das Evangelium verkündet, für Aufruhr gesorgt und damit Ärger hervorgerufen haben: Damals war Philippi eine römische Kolonie in Makedonien, heute liegt der Ort in Griechenland. Der Aufruhr rührt daher, dass sie jüdische Sitten verkündigt haben, die nicht zu den römischen Gebräuchen passen. Was sie den Leuten erzählen, ist den Anhängern der Regierung nicht genehm, es passt nicht zu dem, was im Lande üblich ist und was dem sogenannten Volksempfinden entspricht. Deshalb sitzen sie nun also im Gefängnis, verprügelt und streng bewacht. Was Lukas hier erzählt, ist auch ein religionspolitisches Drama.

In ihrer Not beginnen Paulus und Silas zu beten und Gott zu loben. Ob sie dabei geflüstert haben oder mit klarer Stimme gesprochen, das schreibt Lukas nicht; vielleicht haben sie auch gesungen; in der antiken Welt des Judentums wäre das nicht unüblich gewesen. So wie auch unsere Kirchenlieder reine Gebete sind. So wie die Menschen in Paris vor der brennenden Notre Dâme zu singen begonnen haben. In jedem Fall haben Paulus und Silas damals ihre Stimme erhoben und, mitten in die Stille der politischen Nacht hinein, das Lob Gottes erklingen lassen. „Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder.“ Die Stimmen politischer Gefangener sind weltberühmt: Das Shema Israel, das aus den Gaskammern von Auschwitz zu hören war. Das Lied der Moorsoldaten aus dem KZ Börgermoor. Die Gedanken sind frei. Oder: We shall overcome. Wo immer Menschen diese Lieder singen, werden Machthaber nervös: Lieder, die vom friedlichen Aufbau einer neuen Welt erzählen. Lieder, die für Vergebung und Versöhnung eintreten. Lieder, die von der Macht der Liebe und der Hoffnung auf neues Leben singen. Wo immer Menschen diese Lieder singen, werden Machthaber nervös. Denn zuerst sind es nur die Stimmen einzelner, aber sobald sich die Stimmen vereinen, werden sie zu einem unüberhörbaren Chor – einem Chor, der ein politische Erdbeben auslösen kann.

Wie in unserem Bibeltext. Denn siehe da, das Wunder geschieht: Die Gefängnismauern beben, die Türen schlagen auf, die Verankerungen der Fesseln lösen sich, die Gefangenen sind frei. Das weiß auch der Wärter, der für sie verantwortlich ist und ihre Flucht vermutlich mit Folter, Freiheitsentzug und dem Leben bezahlen wird. Erdbeben hin oder her. Der Selbstmord scheint ihm der einzige Ausweg zu sein. Doch Paulus und Silas fliehen nicht. Wir wissen nicht, ob es neben den beiden noch andere Gefangene gegeben hat, wir wissen also nicht, ob es nicht doch eine Flucht gegeben hat. Aber diese beiden hier haben die Gunst der Stunde jedenfalls nicht genützt. Sie harren aus und erlösen den Wärter von seiner Angst. „Tu dir nichts an, wir sind alle hier.“

Dass Paulus und Silas das tun, löst geradezu ein weiteres Erdbeben aus, diesmal im Wärter selbst: „Meine Herren, was muss ich tun, um gerettet zu werden?“ Es ist, als ob er intuitiv den Zusammenhang herstellt zwischen der inneren Freiheit dieser beiden Menschen einerseits und dem Erdbeben andererseits. Er scheint zu spüren, dass sie von einer Herrlichkeit getragen sind, die mehr vermag als Fesseln und Mauern. Einer Kraft, die Mauern fallen lassen kann und Berge versetzen. Lukas, der Erzähler der Apostelgeschichte, lässt den Wärter auf diese Weise schon erahnen, was wir alle verstehen sollen: Dass Außerordentliches geschieht, wo Gott eingreift. Dass Wunderbares möglich ist, wo Jesus wirkt. Punkt. Die Antwort des Paulus überrascht uns daher nicht mehr: „Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig!“ Und der Wärter glaubt, nimmt Paulus und Silas zu sich und lässt sich und sein Haus taufen. Die Geschichte geht gut aus. Ganz so, wie ich es als Kind erwartet hatte.

Wenn ich den Text heute, als Erwachsene lese, dann bleibe ich nicht nur in der Geschichte selbst. Sondern dann stehen mir drei größere Zusammenhänge vor Augen. Der erste: In dieser Geschichte steht uns die grandiose literarische Leistung der gesamten Bibel vor Augen. Denn dass Lukas hier von einem Erdbeben erzählt, ist kein Zufall. Im Gegenteil. Das Erdbeben ist im Alten Orient ein Element des Chaos, das allein unter Gottes Herrschaft steht. Gott allein vermag das Chaos zu bändigen, weil er – so die erste Schöpfungserzählung – weil er Herr ist über Licht und Finsternis, Tag und Nacht, Wasser und Land. Deshalb kann auch Jesus Wasser und Wellen gebieten und den Sturm stillen, deshalb erkennen die Jünger an dem, was er da tut, dass in ihm die Kraft Gottes wirkt. Weil Gott über die Gewalten der Schöpfung herrscht, deshalb geht seine Erscheinung mit grundstürzenden Phänomenen wie einem Erdbeben oder einer Sonnenfinsternis einher. Weil kein Stein dieser Welt auf dem anderen bleibt, wenn Gott selbst kommt. Deshalb verfinstert sich die Sonne in Jesu Todesstunde, deshalb reißt der Vorhang des Tempels entzwei und gibt den Blick auf das Allerheiligste, also auf Gott selbst, frei. Auf Gott selbst, der sich nirgends anders als in Jesus am Kreuz zeigt. „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab.“ Wie gut, dass die Kantorei unseren Gottesdienst mit diesem gesungenen Bekenntnis eröffnet hat. Auch Paulus und Silas, die Apostel des Evangeliums hätten das singen können. Sie sitzen im Gefängnis fest, rufen zu Gott, und siehe, er kommt. Mit Mächten und Gewalten, er lässt die Erde beben, auf dass alle Welt erkenne, wer der Herr ist. Das ist es, was der Gefängniswärter verstanden hat. Sein Bekenntnis zu Jesus Christus ist nur noch die logische Konsequenz.

Das zweite: Wenn ich den Text heute und hier als Erwachsene gemeinsam mit Ihnen am Sonntag Kantate, lese, dann höre ich den Text im Einklang mit der großartigen Musik der Kantorei, die auch das Abendmahl begleitet: Verleih uns Frieden. „Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten. Es ist ja doch kein andrer nicht, der für uns könnte streiten.“ Ist das nicht genau das Lied, das Paulus und Silas hätten singen können? Ist es nicht genau das Lied, das wir heute wieder singen müssen? Weil es niemanden zu geben scheint, der in diesem Land für den Frieden einzutreten vermag? Weil es in dieser Welt viel zu wenige gibt, die für den Frieden streiten? Weil stattdessen Hass und Hetze regieren? Weil sich eine Politik breit macht, in der die Mauern hoch und die Gefängnisse in die Breite gebaut werden sollen? Weil neben aller sonstigen Verfolgung auch die Stimmen gottesgläubiger Menschen viel zu oft durch Haft, Folter und Freiheitsentzug zum Schweigen gebracht werden? Weil es Christinnen und Christen ebenso trifft wie muslimische Frauen und Männer, Jüdinnen und Juden. „Verleih uns Frieden gnädiglich!“ Ist es nicht genau das Lied, das uns zu singen übrig bleibt? Wie gut, dass es uns heute beim Abendmahl begleitet.

Das dritte: Wenn ich den Text heute und hier als Erwachsene gemeinsam mit Ihnen lese, dann weiß ich, dass nicht jede Geschichte einfach gut ausgeht. Im Gegenteil, dann weiß ich um die vielen Geschichten, die nicht gut ausgehen. Deshalb ist es so gut, dass wir aus dem Abendmahl gestärkt in das Leben treten dürfen, die neue Woche mit neuer Kraft beginnen dürfen. Eine Woche, in der es mit dem religionspolitischen Drama unseres Textes noch um eines mehr geht. Damit meine ich nicht den gestrigen Eurovision Song Contest, denn als Österreicherin darf ich Sie trösten: Wir sind fast immer auf den hinteren Rängen gelandet und man kann das mit völliger Gelassenheit ertragen. Nicht ertragen kann man hingegen, was sich dort gerade politisch abspielt, weshalb dieser dritte Punkt wichtig ist, keineswegs nur für Österreich, sondern weit über dessen Grenzen hinaus.

Wir lesen mit unserem Text ein religionspolitisches Drama. Wir hören mit Martin Luther „Verleih uns Frieden gnädiglich“. Und wir feiern diesen Sonntag vor der Europawahl, in der wir alle aufgerufen sind, unsere Stimmen zählen zu lassen. Unsere Stimmen, die für ein geschlossenes Europa sprechen können oder für eines, in dem Grenzen für andere Menschen offen bleiben. Unsere Stimmen, die für ein Europa der nationalen Identität eintreten können oder für eines, das international nach gemeinsamen Wegen sucht. Unsere Stimmen, die für ein an der Wirtschaft orientiertes Europa kämpfen können oder für eines, das die Humanität vor den Profit setzt.

Aber wofür auch immer wir unsere Stimmen laut werden lassen, wir lassen sie mit Paulus und Silas laut werden als Christinnen und Christen. Das ist unsere Verantwortung. Hier und heute. Denn auch wir treten mit unseren Stimmen für das ein, was uns in unserem Herzen bewegt. Auch wir zeugen von der inneren Freiheit, die uns der Glaube an Christus ermöglicht. Auch wir treten ein für die Herrlichkeit Gottes, die uns trägt und mehr vermag als Fesseln und Mauern. Auch wir halten fest an der Hoffnung auf das Reich Gottes, auch wir sind berührt von der Freude über das Licht des Lebens. Auch wir treten ein für die Zuversicht auf Christus. Auch wir stehen in dieser Welt im Vertrauen auf Gott, weil wir uns nicht fürchten. Denn wo Gott wirkt, geschieht Außergewöhnliches. Wo Jesus wirkt, ist Wunderbares möglich. Lasst uns deshalb gemeinsam unsere Stimme erheben und in die politische Nacht hinein das Lob Gottes erklingen lassen. Weil es der Friede Gottes ist, der unsere Herzen und Sinne bewahre in Christus Jesus.

Amen

 

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